Neujahrsbeichte oder warum es 2022 in Oberösterreich einen Mangel an Philosoph_innen gab.
Es ist ein wenig komplex, aber auch recht amüsant, zusammengefasst kann man aber durchaus sagen: Wir im AMS haben logistisch Mist gebaut, ich ersuche um Entschuldigung.
Seit heute gilt die neue Mangelberufsliste für das Jahr 2023 und nicht mehr die für 2022. Das beruhigt mich. Die Mangelberufsliste ist eine Verordnung des Bundeministers für Arbeit, die regelt, in welchen Berufen ausländische Fachkräfte erleichtert eine Rot-Weiß-Rot Karte erhalten und damit am österreichischen Arbeitsmarkt zugelassen werden können. Grundlage für die Entscheidung über die Mangelberufsliste ist (grob gesagt) der Stellenandrang des Vorjahres, also eine Gegenüberstellung der beim AMS gemeldeten offenen Stellen und Arbeitssuchenden. Seltene Berufe in denen es nur einzelne Arbeitssuchende oder wenige offene Stellen gibt, werden dabei ausgeblendet. Aufgrund der aktuell exzellenten Arbeitsmarktsituation befinden sich 2023 fast 100 Berufe auf dieser Liste. Zusätzlich sind unzählige weitere Berufe regional – abhängig von der Situation in den einzelnen Bundesländern – ergänzt.
Auch 2022 war die Mangelberufsliste mit 68 Berufen bundesweit recht lang und wurde darüber hinaus in acht Bundesländern erweitert. Spitzenreiter war hier Oberösterreich, für das 49 zusätzliche Berufe bzw Berufsgruppen verordnet wurden. Der letzte dieser 49 Einträge – hier eine Berufsgruppe – überraschte. Es waren dies die Philosoph_innen und Psycholog_innen. Weil ich meine Kolleg_innen kenne, gehe ich fest davon aus, dass bei uns oder im Arbeitsministerium bestimmt jemand stutzig wurde, warum es gerade in diesen Berufen einen Mangel in Oberösterreich gegeben haben sollte. Philosoph_innen werden von der Wirtschaft generell recht selten gesucht (warum eigentlich?) – aktuell gibt es österreichweit nur eine offene Stelle, ein Lehrauftrag in Philosophie/Ethik auf der Paris Lodron Universität in Salzburg.
Und auch bei Psycholog_innen überrascht der Mangel ebenfalls. Nicht nur, dass es überhaupt zweifelhaft ist, ob es generell einen Mangel an Psycholog_innen gibt, auch werden viele dieser Jobs nicht über das AMS ausgeschrieben und finden sich damit nicht in der Berechnung unseres Stellenandrangs. Weil aber die Auswertung korrekt durchgeführt wurde, verordnete Bundesminister Kocher am 22.12.2021, dass Philosoph_innen und Psycholog_innen für 2022 in Oberösterreich Mangelberufe seien und damit leichter zugelassen werden können.
Die Berufssystematik des AMS
Um unseren Fehler zu verstehen, ist noch folgender Exkurs notwendig. Die Berufssystematik des AMS basiert ursprünglich auf dem „Systematischen Verzeichnis der Berufe“ des statistischen Zentralamtes, erstmals veröffentlicht 1961. Eine solche Systematik braucht es nicht nur für statistische Auswertungen, sondern vor allem für die Vermittlung von Arbeitssuchenden auf offene Stellen. Auch verlangt etwa der Berufsschutz im Bereich der Arbeitslosenversicherung oder das Invaliditätspensionsrecht nach einer konkreten Definition. Die AMS Berufssystematik enthält aktuell rund 500 unterschiedliche Oberberufe – die Grundgesamtheit für die Erstellung der Mangelberufsliste – und untergeordnet etwa 4.000 Spezialberufe. Ein Beispiel: Dem Oberberuf „Schlosser_in im Metallbereich“ sind unzählige Spezialberufe untergeordnet wie zB. Kesselschlosser_in, Karosserieschlosser_in oder auch Maschienenschlosser_in. Die ganze Systematik, der auch noch 25.000 Kompetenzen zugeordnet sind, kann bei Interesse hier näher angesehen werden.
Zusammenfassend muss man feststellen, dass das ganze Ding überaus komplex ist, viel Forschungsarbeit verlangt und sich in ständiger Veränderung befindet. Laufend entstehen neue Berufe und wann alte verschwinden, ist gar nicht einfach zu definieren. Wie im Tierreich tauchen in den offenen Stellen des AMS immer wieder auch, schon als ausgestorben geglaubte, Berufe auf. So wurden, in der Textilproduktion, die in Österreich kaum mehr existiert, zum Beispiel noch Schärer_innen, Zwirner_innen und sogar ein/e Stricker_in gesucht. Ein bisschen – die zuständigen Kolleginnen mögen verzeihen – kommt mir bei näherer Betrachtung unsere Berufssystematik dabei aber doch wie ein Dachboden vor, in den man immer wieder was hineinräumt, der aber nicht oft genug ausgemistet wird, weil man ja nicht weiß, was man noch brauchen könnte. Ein kurioses Highlight eines gestrichenen Berufes aus den letzten Jahren war die oder der Kinderwärter_in.
“Der Beginn der Weisheit ist die Definition der Begriffe.” Sokrates
Der Fehler
Doch nun endlich zur Auflösung. Kennen Sie das Gefühl, wenn Ihnen etwas unterbewusst längere Zeit keine Ruhe lässt? Wenige Monate nach der Veröffentlichung der Mangelberufsliste 2022 sind meine Kolleginnen aus der Fachabteilung für Berufsinformation den Philosoph_innen und Psycholog_innen dann doch noch auf den Grund gegangen und haben sich die zu dieser Berufsobergruppe passenden offenen Stellen des Jahres 2022 in Oberösterreich einzeln angesehen. Zu ihrer Verwunderung fanden sie dort größere Mengen an Jobs, bei denen es um den Transport und die Lagerung von Gütern und Personen ging. Warum?
Einer der den Philosoph_innen in der Berufssystematik untergeordnete Spezialberuf war der oder die Logistiker_in. Es handelt sich hier um eine alte Berufsbezeichnung, die man heute Logiker_in nennt, nämlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Gesetzen der Logik. Traditionell wird dieses Thema eben der Philosophie zugeordnet, heute versteht man darunter meist die symbolische Logik bzw. Strukturen innerhalb der Mathematik und Informatik. Lange Zeit – bei uns zu lange – wurde diese Wissenschaft jedoch noch Logistik genannt. Ein schönes Beispiel hierfür ist das jahrzehntelang vom bekannten Wiener Logiker Curt Christian geführte „Institut für Logistik der Universität Wien“, das erst im Jahr 2000 in „Institut für formale Logik“ umbenannt wurde und heute „Kurt Gödel Research Center for Mathematical Logic“ genannt wird.
Während wir die alte Berufsbezeichnung Logistiker_in aber noch auf unserem Dachboden aufgehoben hatten, ordneten mehr und mehr unserer Kolleg_innen im Service für Unternehmen freie Stellen bei denen es um den Transport oder die Lagerung von Gütern ging, irrtümlich dem Beruf Logistiker_in in seiner neuen Bedeutung zu und nicht wie es richtig gewesen wäre, den Berufsbezeichnungen Betriebslogistikkaufmann/-frau, Lagerlogistiker_in oder im Hochschulbereich Logistikmanager_in.
Und so entstand mit der Zeit fälschlicherweise auch in der Berufsobergruppe der Philosoph_innen und Psycholog_innen ein immer stärkerer Mangel, der es dann sogar auf die oberösterreichische Mangelberufsliste des Jahres 2022 schaffte.
Ist ja logisch, oder?
PS. Erfreulicherweise ist nichts weiter geschehen. Nachdem der Fehler im AMS aufgeklärt wurde, kam zu keinen falschen Zuordnungen mehr. Auch hatten wir das ganze Jahr 2022 in Oberösterreich nicht einen Antrag auf eine Rot-Weiss-Rot Karte für eine/n Psycholog_in oder eine/n Philosoph_in (warum eigentlich nicht?). Um auch den letzten Einwand zu behandeln: Nein, auch bei richtiger Zuordnung aller Stellen wäre die Lagerlogistik nicht auf der österreichweiten Mangelberufsliste 2022 gelandet. Bitte trotzdem um Entschuldigung.
Toller Beitrag und mußte als AMS-Mitarbeiterin breit grinsen….. Bei den ausgestorbenen 6-Steller ist Christian Scherzer ehem. AMSBG, dann IBM, eventuell derzeit BRZ – aber welcher AMSler kennt ihn nicht – einfach grandios. Danke für die „Aufklärungsarbeit“.
Übrigens: die Psychologie der Philosophie unter- oder zuzuordnen ist ebenso veraltet wie die alte Verwendungsweise von “Logistik”. Zwar ist die Psychologie erst vor etwa 150 Jahren aus der Philosophie als separate akademische Disziplin hervorgegangen, aber dennoch ist es heute irreführend, eine Berufskategorie “Philosoph_innen und Psycholog_innen” zu verwenden.