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28
Nov
2020

Demokratie, oder: Was jeder sagen soll

Unlängst habe ich auf twitter „laut nachgedacht“ und damit einen erwarteten Sturm der Entrüstung ausgelöst. Ich wies nämlich darauf hin, dass es aus Sicht des Arbeitsmarktes sinnvoll wäre, heuer nicht gleich alles abzusagen, sondern doch eine entsprechend reduzierte Form von Wintertourismus in Österreich zuzulassen.

 

Und wie erwartet folgten darauf unzählige wütende, teilweise sogar recht grobe Reaktionen, wie unverantwortlich, ja geradezu lebensgefährlich diese meine Überlegungen seien. Ähnliches konnte man vorgestern Abend auch beim Auftritt der Tourismusministerin Elisabeth Köstinger in der ZIB2 beobachten. Lou Lorenz Dittelbacher – wie immer gut vorbereitet – argumentierte dabei mit ihren Fragen recht beharrlich und schlüssig, dass eine Öffnung der Wintersportgebiete aus gesundheitspolitischen Gründen wohl kaum mehr vertretbar sei. Doch BM Köstinger verwies mehrfach auf mögliche Sicherheitskonzepte sowie auf die Bedeutung des Tourismus als Arbeitsgeber und Wirtschaftsfaktor. Und je mehr die Journalistin auch bohrte: Die Tourismusministerin argumentierte für den Tourismus.

Ist das sosehr verwunderlich?

Dass derartige Themen nicht immer sachlich diskutiert, sondern oft moralisierend niedergemacht werden, erlebte ich auch vor etwa 14 Tagen mit einem Dutzend DemonstrantInnen vor der Zentrale des AMS. Dabei wurde lauthals gegen die in der damaligen COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung vorgesehene Weiterführung der AMS-Schulungen während des “leichten” Lockdowns Anfang November protestiert. Und auch dabei war das Argument, dass gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Schulungen wichtig sind, keineswegs gefragt.

Die belastende Situation, in der wir alle seit Monaten leben müssen, macht zwar manche von uns schweigsam und in sich gekehrt, veranlasst aber andere, ihre Stimme besonders unüberhörbar zu erheben. Dabei wird der Standpunkt, dass der Schutz von Leben diskussionsfrei einen absoluten Wert darstellt, hinter den alle anderen Notwendigkeiten zurückzutreten haben, oft als moralische Position verwendet, die deren Vertreter gleichsam unantastbar macht und verhindern soll, alle übrigen Folgen notwendiger Entscheidungen in Pandemiezeiten nicht mehr weiterzudenken und weiter diskutieren zu müssen. Aber genügt eine derartige Position schon, um Recht zu haben?

Der Straßenverkehr in Österreich fordert jedes Jahr mehr als 400 Tote. Sollen wir ihn also abschaffen oder zumindest jeden, der diesem Vorhaben widerspricht, persönlich verunglimpfen?

Ist es richtig, dass etwa ein Bildungsminister in sozialen Medien beinahe untergriffig attackiert wird, weil er sich dafür einsetzt, dass Schulen offenbleiben? Soll er dabei in seiner Argumentation primär auf gesundheitspolitische Überlegungen hinweisen oder vor allem pädagogische Dringlichkeiten klarmachen? Und soll sich etwa eine Arbeitsgeberorganisation vorwerfen lassen, dass sie bei der Forderung nach einem möglichst hohen Umsatzersatzes für österreichische Betriebe, die gerade wochenlang zusperren müssen, nicht primär die Budgetbelastung oder die Höhe des Arbeitslosengeldes im Auge haben?

Natürlich sollte jeder, der mitreden will, alle Aspekte derartiger Entscheidungen mitbedenken. Und als Verhandlungspartner wird er umso erfolgreicher sein, je besser er auch mit dem Kopf des Anderen denken kann. Deshalb wird etwa eine Gewerkschaft zu besseren Abschlüssen kommen, wenn sie nicht aus den Augen verliert, was für die Arbeitgeber überhaupt möglich ist. Aber ist es deshalb die Kernaufgabe der Gewerkschaft, auf die Interessen der Arbeitgeber zu achten? Oder kommt der jahrzehntelange Erfolg der österreichischen Sozialpartnerschaft nicht dadurch zu Stande, dass zwei halbwegs gleich starke Verhandlungspartner primär an ihre Mitglieder denken und letztlich Kompromisse akzeptieren? Oder sollen in einer Demokratie die verantwortlichen Verhandler vom Anfang an den Kompromiss im Auge haben und nicht die Interessen ihrer Gruppe?

Ich erinnere mich, dass ich gegen Ende meiner Mittelschulzeit gemeinsam mit anderen Jugendlichen mehrere Tage lang an einem Wirtschaftssimulationsspiel teilnehmen konnte. Wir bekamen unterschiedliche Rollen wie Regierung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Umweltschützer, usw. Nach ausführlichen Diskussionen untereinander wurden unsere Spielentscheidungen von ExpertInnen bewertet und in eine Simulationssoftware eingegeben, die dann anhand von Kennzahlen errechnete, wie sich unser fiktiver Staat von Jahr zu Jahr entwickelt hätte. In dieser Simulation kam unser Land die ersten Jahre kaum voran, die Arbeitslosigkeit war hoch, die Löhne niedrig, das Wirtschaftswachstum nur schwach. Erst, als wir unseren ursprünglichen Spielansatz, der auf extremen Konsens ausgerichtet war, änderten und jeder stärker auf die Interessen der von ihm Vertretenen achtete, sodass diese Gruppe dann auch motiviert und zu mehr Leistung bereit war, erst dann kam unser Staat richtig voran.

Sosehr mich damals diese spielerische Erkenntnis überraschte und faszinierte, sosehr weiß ich heute natürlich, dass sie gerade in Zeiten wie diesen nicht immer endgültige Schlüsse zulässt. Aber in Erinnerung an damals frage ich mich heute doch, ob etwa ein Bildungsminister vor allem dafür bestellt ist, dass er sich nicht um Bildung, sondern um Gesundheitsfragen kümmert, oder ob dann folgegemäß Ärzte und Virologen wirklich primär allfällige Wirtschaftsfolgen im Auge behalten müssen, bevor sie ihre medizinischen Zukunftsprognosen und Empfehlungen abgeben.

Die Lehrer als Kinderärzte? Die Ärztin als Wirtschaftsexpertin? Oder, wie Gunkl, wir alle als “Experten für eh alles”?

Wofür ich plädiere, ist ein veränderter Umgang mit jenen Stimmen, die aus beruflicher Verantwortung auch andere wichtige Aspekte als rein gesundheitserhaltende in die Diskussion einbringen. Denn es wäre ja geradezu absurd, wenn ein Bildungsminister nicht vor den Folgen von Schulschließungen warnt, bevor dann letztlich der zuständige Gesundheitsminister in Abstimmung mit dem Hauptausschuss des Nationalrats entscheiden muss.

So hat in einer Demokratie jeder seine Aufgabe und seinem Amt entsprechend seinen Standpunkt der Öffentlichkeit klar zu machen, ohne dass er sich vor all zu persönlichen Attacken der „Lebensretter“ fürchten müssen sollte.

Oder, wie es der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zuletzt in einem Interview für den Tagesspiegel sagte:

Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen.

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11 Responses

  1. M. Fuchs

    Ja. Nur ist das Autounfallargument gerade jetzt sehr verunglückt. Derzeit sterben an Covid in vier Tagen so viele Menschen wie im Jahr durch Autounfälle. Ich denke, das muss mitbedacht werden.

  2. Daniel Undeutsch

    Sehr geehrter Herr Kopf,

    können Sie sich noch erinnern, wie dieses Wirtschaftsimulationsspiel geheißen hat, oder können Sie so ein ähnliches am Markt verfügbares empfehlen?
    Das klingt nämlich sehr spannend.

    MfG Daniel

  3. Nur weil jeder inzwischen jahrzehntelange Fehlbehandlungen unwidersprochen als Covidtod abwatschen kann, wird aus der Knopflochperspektive auf Verkehrsunfälle noch kein Panoramablick. Ansonsten wäre nach jedem angeblichen Leukämietod eine Obduktion fällig. Und selbst dann gilt: Pathologen zählen zur Berufsgruppe mit der höchsten Suizidrate resp. dem höchsten Verarmungsrisiko. Wahrscheinlichkeiten überzubewerten, macht aus einem Poker noch kein Strategiespiel.

  4. Reinhold Gärtner

    Ich finde Ihren Beitrag sehr lesenswert!!! Vor allem auch deswegen, weil in der aktuellen COVID-Diskussion meines Erachtens grundsätzlich zu selten die Gesamtperspektive mitgedacht wird.

  5. Sehr geehrter Herr Kopf,

    danke für Ihren erfrischenden Beitrag. Einerseits kann in Krisenzeiten die Interpretation von Demokratie so in etwa wie eine Umsegelung des Kap Horn in früheren Zeiten ähneln, je nachdem woher der Wind weht wird agiert und argumentiert. Mich hat ebenso der Beitrag im ORF bzgl. AMS führt seine Schulungen im Lockdown weiter aufgeregt. Ich bin seit vielen Jahren im arbeitsmarktpolitischen Kontext tätig, u.a. derzeit als Trainer im Digitalisierungsbereich und erlebe gerade wie wir (BBRZ Reha) unseren Kund*innen ein Stück Hoffnung in diesen unsicheren Zeiten vermitteln können. Die Mehrheit (lt. Umfrage) unserer Kund*innen finden es derzeit enorm wichtig sich beruflich weiterzubilden um in Zukunft eine Chance am Arbeitsmarkt zu haben und gerade die Lockdown Zeit für Schulungen zu nutzen.

    Danke für Ihren Beitrag zur Demokratie und für die Menschen, die jetzt mehr den je Förderung und Coaching in Anspruch nehmen möchten.

    Ronald Lugerbauer
    Netzwerkkontakter
    BBRZ Reha Wien

  6. StaatsbürgerIn

    Sehr geehrter Herr Kopf
    Wie so immer bilden Tonfall und Lautstärke wesentliche Elemente der politischen Auseinandersetzung. … und wenn wir uns global und historisch umschauen ist leider festzustellen, daß diese auch ein Element und Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Das nur zur Erklärung nicht zur Verteidigung.
    So recht Sie haben, daß jeder in seiner Funktion auch seine Agenda, Verantwortung und Klientel vertreten soll, leidet der österreichische Staat aber seit Jahren daran, daß diese von Ihnen vertretene Position vielfach überzogen wird:
    Bei allem Respekt für die vertetenen Interessen sollte eig. jede/r auch die Interessen der Gesamtheit des Staats im Blick haben und seine Forderungen mit Blick darauf mäßigen.
    Österreich leidet in hohem Maße an diesem Klientelismus, daß jede Standesvertretung, jede Einheit das Maximum für sich und für Ihre Interessen fordert. Das Ergebnis ist selten wirklich befriedigend.

    Ihr Beispiel mit den 400 Verkehrstoten finde ich aus zwei Gründen unpassend:
    1. Die Verkehrstoten sind nicht ansteckend, die Covid-19 Infizierten sind aber zu allem Überfluß auch noch unbestimmbare Zeiten hochinfektiös. … und Covid-19 ist für Millionen Menschen weltweit und tausende ÖsterreicherInnen keine banale Grippe sondern eine Erkrankung die zusätzlich Folgen hat die wir nicht einmal noch annähernd abschätzen können.
    Entsprechend hoch ist der Streß und die Emotion.
    2. Die fehlende Wahrnehmung der 400 Verkehrstoten begründet sich nicht damit, daß die Leute das nicht wahrnehmen sondern, daß in Österreich wenig Bereitschaft besteht politisches Handeln durch vermehrtes Zählen objektiver und gezielter zu gestalten. Entsprechend ist die Wahrnehmung von Zahlenverhältnissen insgesamt gering ebenso die Bereitschaft daraus Konsequenzen zu ziehen: Bestes Beispiel dafür ist die tägliche Berichterstattung des aktuellen Dienstes in der ZIB: Was nützen die täglichen Infektionraten und Sterbezahlen ohne Vergleichszahlen. Während wir im Frühjahr mit den Sterbezahlen im Promillebereich der Sterblichkeit in Österreich lagen haben wir aktuell eine Übersterblichkeit pro Woche von 20% ! Wo steht das: Im Teletext vorgestern irgendwo.
    Unter diesen Verhältnissen ist emotionsgeladener Widerspruch gut verständlich aber auch dann besonders unangenehm wahrgenommen. Wollten wir das ändern wird man gesellschaftlich an vielen Schrauben drehen müssen. Keine leichte Aufgabe in diesem Land.
    Aber vielleicht erinnern Sie sich und die Befüworter Ihrer Meinung daran wenn der Streß nachgelassen hat und machen das zu Ihrer Agenda.