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20
Juni
2016

Ohne Neid und Unverständnis

Die Mindestsicherung muss neu geregelt werden.

Ende dieses Jahres läuft in Österreich die sogenannte 15a-Vereinbarung aus. Mit dem zwischen Bund und Ländern geschlossenen Staatsvertrag wurde im Jahr 2010 die Mindestsicherung bundesweit eingeführt. Aktuell wird aber eine neue Vereinbarung verhandelt, und viele oft ungewöhnlich scharfe Statements zeigen, wie schwierig es offenbar ist, neuerlich einen Kompromiss dafür zu finden, wie man als Staat Armut richtig bekämpft.

Denn anders als es sich aus den vielen Wortmeldungen vermuten lässt, kann es bei der Mindestsicherung niemals ein richtiges, sondern immer nur ein möglichst ausbalanciertes System geben. Weil es sich dabei um eine hochkomplexe Optimierungsaufgabe zwischen einander widersprechenden Interessen handelt — eine selbst in der höheren linearen Mathematik keineswegs triviale Aufgabe.

Erklärtes Ziel der bedarfsorientierten Mindestsicherung ist natürlich die Armutsbekämpfung. Nur steht dieses Ziel zu drei weiteren Interessen in einem klaren Widerspruch.

Zum Ersten gilt es — und das hört man heute auch meist als Erstes — die Arbeitsanreize bei den Leistungsbeziehern zu erhalten. Mit diesem “Lohnabstandsgebot”, wie es das deutsche Sozialgesetzbuch formuliert, will man nicht nur Kosten sparen, sondern in Verbindung mit aktiver Arbeitsmarktpolitik letztlich auch Armut wirksamer bekämpfen. Denn es geht nicht nur darum, den Menschen Geld zu geben, sondern auch darum, ihnen den Weg zur Selbsterhaltungsfähigkeit und -willigkeit zu zeigen. Falsche “Großzügigkeit” kann hier durchaus Arbeitslosigkeit verlängern.

Das zweite jeder staatlichen Transferleistung entgegenstehende Interesse ist natürlich die Schonung der öffentlichen Finanzen. Zwar hat zuletzt die grüne Abgeordnete Judith Schwentner in einem Gastkommentar in der Tageszeitung Die Presse darauf hingewiesen, dass die Mindestsicherung im Jahr 2014 nur 0,77 Prozent aller Sozialausgaben kostete und damit wohl das österreichische Budget nicht wirklich überfordern würde. Doch berücksichtigt diese Betrachtungsweise nicht die tatsächliche Aufbringung der Mittel: Österreichs Gemeinden tragen nämlich über ihre Sozialhilfeverbände je nach Bundesland zwischen 35 und 50 Prozent der Mindestsicherungskosten selbst. Und dies bedeutet, dass einzelne Gemeindebudgets durch immer mehr Asylberechtigte aktuell durchaus stark belastet werden.

Das dritte der Armutsbekämpfung gegenläufige Interesse ist die Aufrechterhaltung der öffentlichen Solidarität. Während etwa in der Arbeitslosenversicherung alle Beitragszahler nicht nur darauf vertrauen können, selbst im Versicherungsfall Leistungen beziehen zu können, wird die Akzeptanz des Systems auch dadurch hergestellt, dass man weiß, dass andere Menschen Leistungen nur dann bekommen, wenn sie zuvor auch selbst Beiträge gezahlt haben.

Bei den Fürsorgeleistungen wie zum Beispiel der Mindestsicherung gilt das jedoch gerade nicht. Leistungsbezieher haben eben keine oder keine ausreichenden Versicherungsbeiträge gezahlt. Die Finanzierung erfolgt hier durch Steuermittel und verlangt von den Steuerzahlern zur Akzeptanz so etwas wie Mitmenschlichkeit mit jenen, die sich in einer Notlage befinden. Der Grad dieser Solidarität ist von Staat zu Staat unterschiedlich und auch in Österreich alles andere als konstant. Und so werden gerade in Bezug auf die vielen geflüchteten Menschen nun immer mehr kritische Stimmen laut.

Dabei werden Neid und Unverständnis mit dem Argument gepaart, dass “diese Fremden ja nie in unser System eingezahlt haben”. In Oberösterreich soll nun die auch rechtlich stark kritisierte Ungleichbehandlung der Geflüchteten diesen Gefühlen offenbar gerecht werden.

Das optimale System der Mindestsicherung kann man sich daher am besten wie einen Tisch mit vier Beinen vorstellen. Jedes dieser Beine ist im Idealfall gleich lang und stellt eines der Ziele dar: Armutsbekämpfung, Arbeitsanreiz, Finanzierbarkeit und Akzeptanz durch die anderen. Ändern sich jedoch irgendwie die Rahmenbedingungen und dadurch die Länge eines der Beine, so fängt der Tisch und damit das ganze System zu wackeln an.

Bisher wurde die öffentliche Diskussion meist recht oberflächlich geführt. Dabei wurden viele Beispiele von verschiedenen Seiten auf den Tisch gelegt: dass die Arbeitsanreizwirkung in Bezug auf die am Markt erzielbaren Löhne für diesen oder jenen nicht mehr gegeben wäre, dass von diesem oder jenem Betrag nicht menschenwürdig zu leben sei und vieles Für und Wider mehr. Vereinfacht lässt sich sagen, dass alle mit ihren Argumenten recht hatten. Aber alle argumentierten eben immer nur aus einer Ecke, entlang eines der vier Tischbeine und hielten sich an diesem Bein fest.

Komplizierte Themen einfach erklären zu können ist eine wichtige politische Stärke. Vor der Annahme, solche auch einfach und undifferenziert lösen zu können, muss jedoch gewarnt werden. Denn selbst im besten System wird es immer Menschen geben, die es unberechtigt ausnützen, es wird gleichzeitig Armut von Arbeitswilligen geben und Missbrauch durch Arbeitsunwillige. Es wird zu geringe Solidarität da und zu hohe Kosten dort geben.

Aber die Aufgabe der Politik ist es, durch Verhandlungen zwischen den “Argumenten der vier Tischbeine” jene optimale Lösung zu finden, die den Tisch dann für möglichst viele gerade und sicher stehen lässt.

Was braucht es nun aus meiner Sicht konkret — neben der Festlegung der Mindestsicherungshöhen — noch?

Bessere Daten und endlich mehr Transparenz

Noch immer sind die Datenlage und offenbar auch die technischen Möglichkeiten mehrerer Bundesländer beschämend, geschweige denn, dass aufgrund höchst unterschiedlicher Erfassung bundesweit alle Daten vernünftig aggregiert werden können.

So sind zum Beispiel Daten über Sanktionen ebenso wie detaillierte Auswertungen nach diversen Personenmerkmalen kaum erhältlich. Doch gerade im Hinblick auf die Schaffung von Akzeptanz ist Transparenz unumgänglich.

Beseitigung von Inaktivitätsfallen beziehungsweise leistungsfeindlichen Anreizen

Insbesondere bei Familien sind die gegenwärtigen Mindestsicherungssätze in Relation zu den am Markt erzielbaren Einkommen hoch, oft sogar zu hoch. Das ist eine logische Folge davon, dass man bei praktisch keinem Job in unserem Land einen höheren Lohn bekommt, wenn man Partner und Kinder hat. Durch das Bedarfsgemeinschaftsprinzip ist das bei der Mindestsicherung zur Armutsvermeidung aber sinnvollerweise der Fall. Kinderreiche Familien erreichen damit relativ rasch ein Leistungsniveau, mit dem es zwar oft immer noch sehr schwer ist zu leben, das aber am Markt von Niedrigqualifizierten kaum erzielt werden kann.

Verbunden mit den strengen Anrechnungsbestimmungen, die bei zusätzlichem Einkommen in der Regel nur einen kleinen Freibetrag erlauben, lohnt sich Arbeiten dann finanziell zu wenig. So ergab schon im Herbst 2012 eine Evaluierung der L&R Sozialforschung, dass dem “Freibetrag keine positive Wirkung auf die Arbeitsmarktintegration zugesprochen werden kann”.

Wie von mir schon mehrfach vorgeschlagen, braucht es also eine deutliche Erhöhung dieser Freibeträge — allerdings nicht wie bisher über Fixbeträge, sondern durch eine nur teilweise Anrechnung des Verdienstes bei Arbeitsaufnahme, zumindest für einen befristeten Zeitraum. Niederösterreich hat sich bereits für solch ein Modell entschieden, allerdings sollte man auch hier noch mutiger agieren und die sogenannte Obergrenze, also den Maximalbetrag aus Mindestsicherung plus Einkommen, deutlich höher ansetzen oder sogar zur Gänze abschaffen.

Ein einziger Tisch für alle in Österreich

Ein weiteres sehr ähnliches, jedoch kaum diskutiertes Problem betrifft die noch größere Gruppe der beschäftigten Mindestsicherungsbezieher, bei denen ein zu niedriges Erwerbseinkommen aufgestockt wird. Wenn wir da etwa an eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind denken: Nehmen wir an, diese Frau arbeitet — bedingt durch die Kinderbetreuungspflicht — Teilzeit und verdient netto 650 Euro pro Monat. Zusammen mit dem Aufstockungsbetrag der Mindestsicherung kommt sie auf monatlich rund 1.000 Euro. Welches Interesse soll diese Frau daran haben, dann, wenn das Kind größer wird oder sich die Kinderbetreuungssituation verbessern ließe, länger pro Woche zu arbeiten? Warum sollte sie Überstunden machen? Bis zu einem Einkommen 1.000 Euro wird ihr jeder weitere Euro wegen der geltenden Anrechnung sofort wieder weggenommen — ein in meinen Augen gutes Beispiel für die Erziehung zur Leistungsfeindlichkeit. Auch hier brauchte es bei einem Mehrverdienst eine geänderte Anrechnungsweise.

Ein aktueller Problemfall bringt mich zu meinem dritten und im Hinblick auf die politische Realität wohl schwierigsten Wunsch:

Schaffung einer möglichst österreichweit einheitlichen Regelung

Dem AMS Wien ist es mit viel Mühe und dem Engagement eines bedeutenden Technologieunternehmens gelungen, 13 arbeitslosen, unbegleiteten geflüchteten Jugendlichen Lehrstellen in Kärnten zu vermitteln. Die große Freude darüber wurde jedoch rasch getrübt, weil es nach geltender Rechtslage in Kärnten keine Mindestsicherung für Lehrlinge gibt. Das bedeutet, dass die Jugendlichen bei Annahme der Lehrstellen und Übersiedlung nach Kärnten statt derzeit 837 Euro Mindestsicherung in Wien nur mehr die deutlich niedrigere Lehrlingsentschädigung in Kärnten erhalten.

Noch sind wir zuversichtlich, diesen offensichtlich sinnwidrigen Einzelfall mithilfe der betroffenen Behörden lösen zu können. Dennoch macht dieses Beispiel deutlich, dass gerade in Hinblick auf die Wiedereingliederung arbeitsloser Mindestsicherungsbezieher die Chancen von überregionaler Vermittlung nicht durch unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern vermindert werden dürfen.

Abschließend noch ein Wunsch: Mögen diejenigen, die derzeit und demnächst in Sachen Mindestsicherung miteinander verhandeln, sich um alle vier Beine des Tisches kümmern, eines Tisches, der für alle einigermaßen fest und sicher steht. Und mögen sie bitte nur einen einzigen, gemeinsamen Tisch für alle in Österreich machen. Bitte nur einen, nicht gleich neun.

Dieser Beitrag erschien als Gastkommentar zur Mindestsicherung in der Österreichausgabe der Zeit vom 20.6.2016.

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